A. RECHTLICHE EINSTUFUNG ALS LEBENSMITTEL

Nicotine Pouches werden nach der Rechtsprechung als Lebensmittel angesehen und an den lebensmittelrechtlichen Vorschriften gemessen.

„‘Nicotine Pouches‘ (tabakfreie Nikotinbeutel zum oralen Gebrauch) dürften „Lebensmittel“ i. S. v. Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 sein. Ihre wesentlichen Inhaltsstoffe, zu denen neben dem Nikotin auch Süß- und Aromastoffe gehören, dürften im Laufe des bis zu dreißigminütigen Konsums durch die unvermeidliche Speichelbildung in nicht bloß geringfügigem Umfang (auch) in den Magen-Darm-Trakt gelangen. Unter den Begriff des „Lebensmittels“ in Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 dürften auch diejenigen Erzeugnisse fallen, die zwar nicht als solche, aber deren Stoffe bei bestimmungsgemäßem Gebrauch vom Menschen aufgenommen werden, weil sie regelmäßig über den Speichel in einem nicht bloß geringfügigen Umfang (auch) in den Magen-Darmtrakt gelangen. Soweit der Verordnungsgeber in Art. 2 Abs. 2 VO (EG) 178/2002 normiert hat, dass zu den „Lebensmitteln“ auch Kaugummis zählen, dürfte es sich dabei um eine für den letztgenannten Erzeugnistyp exemplarische und nicht um eine im engen Sinne abschließende Klarstellung handeln. (OVG Hamburg, Beschluß vom 19.8.2021, Az. 5 Bs 56/21, Leitsatz, LMuR 2022, 43, beck-online).

Nikotin-Pouches, die in einer durchlässigen Hülle neben einem Trägerstoff Nikotin und Aromen zur Freisetzung im Mundraum und zur Aufnahme über die Mundschleimhaut enthalten, sind Lebensmittel im Sinne des Art. 2 der Lebensmittel-Basis-Verordnung, die in Abhängigkeit von der Nikotinmenge gesundheitsschädlich im Sinne des Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Lebensmittel-Basis-Verordnung [Anmerkung: VO (EG) 178/2002]sein können“ (OVG Lüneburg, Beschluß vom 9.2.2021, Az. 13 ME 580/20, LMuR 2021, 203, beck-online).

Die von der Antragstellerin vertriebenen tabakfreien Nikotinbeutel (Nicotine Pouches) sind aller Voraussicht nach als Lebensmittel im Sinne von Art. 2 VO (EG) 178/2002. einzustufen“ (VG München Beschl. v. 20.5.2021 – M 26b S 20.6309, BeckRS 2021, 12923 Rn. 44, beck-online).

Dies wird in der Literatur z.T. kritisiert. Reinhart, Anmerkung zu OVG Hamburg, Beschluß von 19.8.2021, Az. 5 Bs 56/21, LMuR 2022, 43, beck-online). Reinhardt möchte die produktsicherheitsrechtlichen Regelungen (ProdSG) angewendet wissen:

Gemäß den allgemeinen Regelungen des Produktsicherheitsrechts darf die Sicherheit und Gesundheit von Personen bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung nicht gefährdet werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ProdSG). Da tabakfreie Nikotinbeutel im Rahmen einer Geschäftstätigkeit als Produkt auf dem Markt bereitgestellt werden, ist jedenfalls der Anwendungsbereich des Produktsicherheitsgesetzes grundsätzlich eröffnet (§ 1 Abs. 1 ProdSG). Die Nikotinbeutel sind auch Verbraucherprodukte i. S. d. § 2 Nr. 25 ProdSG, die nur auf dem Markt bereitgestellt werden dürfen, wenn sie sicher sind (§ 6 ProdSG). Soweit ein – unter Berücksichtigung gegebener Anwendungs- und Warnhinweise – bestimmungsgemäßer Gebrauch eines an sich fehlerfreien Produkts gegeben ist, ist eine sich aus der Natur des Produkts ergebende Gesundheitsgefahr zwar kein Gegenstand des ProdSG, jedoch können gegebenenfalls chemikalienrechtlichen Vorgaben zusätzlich zu berücksichtigen sein“ (Reinhart, Anmerkung zu OVG Hamburg, Beschluß von 19.8.2021, Az. 5 Bs 56/21, LMuR 2022, 43, beck-online).

 B. GESUNDHEITSGEFAHR IM SINNE VON ART. 14 ABS. 2 BUCHST. A) VO (EG) 178/2002

Es wird in Abhängigkeit der Nikotinmenge von einer Gesundheitsgefahr im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) VO (EG) 178/2002 ausgegangen:

Der Ausgangsbescheid stützt sich auf eine lebensmitteltechnische Analyse, und zwar die toxikologische Risikobewertung von tabakfreien Nikotinbeuteln durch das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittel – LGL – vom 23. 4. 2020. Danach wird bei der oralen Aufnahme eines Nikotinbeutels der von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA bekanntgegebene Grenzwert um den Faktor 36 bis 175 überschritten und der geprüfte Nikotinbeutel als gesundheitsschädlich und damit als nicht sicher gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) der BasisVO beurteilt“ (OVG Lüneburg, Beschluß vom 9.2.2021, Az. 13 ME 580/20, LMuR 2021, 203 Rn. 21, 22, beck-online).

Die Nikotinbeutel dürften als gesundheitsschädlich i. S. v. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) VO (EG) 178/2002 einzustufen sein. Nikotin ist ein Stoff, der bereits für sich genommen auch dann hochgradig ungesund sein dürfte, wenn er nicht im Wege des Tabakrauchens, sondern tabak- und rauchfrei aufgenommen wird (aaa). Die seitens der Antragsgegnerin in Anlehnung an das CVUA-Gutachten vom 17.9.2020 zugrunde gelegten Referenzwerte für gesundheitsschädliche Nikotinmengen in Lebensmitteln sind im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nicht zu beanstanden (bbb). Die sonstigen in diesem Zusammenhang von der Antragstellerin vorgetragenen Einwände greifen nicht durch (ccc)“. (OVG Hamburg, Beschluß von 19.8.2021, Az. 5 Bs 56/21, LMuR 2022, 43, beck-online).

Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beurteilte mit Gutachten vom 5. November 2020 mehrere Nicotine Pouches aufgrund des Nikotingehalts als gesundheitsschädlich und damit nicht verkehrsfähig. Dazu gehörten u.a. die Produkte „ZYN CITRUS MINI NICOTINE POUCHES STRENGTH 4“ (ZYN) und „VELO Berry Frost Nicotine Pouches EASY“ (VELO). (…) Bei der toxikologischen Risikobewertung in den Gutachten wurde für das Produkt ZYN bei oralem Konsum eines Portionsbeutels eine erhebliche Überschreitung des von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) aus den Ergebnissen einer Humanstudie abgeleiteten ARfD-Werts (Wert der akuten Referenzdosis, sprich diejenige Substanzmenge pro kg Körpergewicht, die über die Nahrung mit einer Mahlzeit oder innerhalb eines Tages ohne erkennbares Risiko für den Verbraucher aufgenommen werden kann; ursprünglich entwickelt für Pflanzenschutzmittelrückstände in Obst, vgl. https://www.lgl.bayern.de/lebensmittel/chemie/pflanzenschutzmittel/et_akute_referenzdosis.htm#:~:text=Die%20akute%20Referenzdosis%20(%20ARfD%20)%20ist,den%20Verbraucher%20aufgenommen%20werden%20kann) um das 20-, 51- bzw. 101-Fache – je nach Freisetzung von 20%, 50% oder 100% des in einem Beutel enthaltenen Nikotins – festgestelltFür das Produkt VELO wurde bei oralem Konsum eines Portionsbeutels ebenfalls eine erhebliche Überschreitung des ARfD-Werts, nämlich um das 11-, 29- bzw. 58-Fache – je nach Freisetzung von 20%, 50% oder 100% des in einem Beutel enthaltenen Nikotins – festgestellt“ (VG Ansbach Urteil vom 27.7.2022, Az. AN 14 K 20.02641, BeckRS 2022, 23337 Rn. 3, beck-online).

Es ist die Rede davon, dass die Produkte bei Anwendung des ARfD- Werts von 0,0008mg/kg Körpergewicht vom Markt genommen werden, wenn sie diesen Wert überschreiten (Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Zulässigkeit des Verkaufs von tabakfreien Nikotinbeuteln („Nikotin-Pouches“) und Lutschtabakprodukten („Snus“) in Deutschland, S. 5, https://doi.org/10.17590/20211221-131258).

Derzeit wird Nikotin in Beuteln von den Überwachungsbehörden als neuartiges Lebensmittel eingestuft. Bei Anwendung des ARfD-Wertes von 0,0008 mg/kg KG werden Nikotinbeutel mit Nikotinmengen, die in diesem Bericht dargestellt wurden, vom Markt genommen“, Gesundheitliche Bewertung von Nikotinbeuteln (Nikotinpouches), 7.10.2022, S. 16, https://www.bfr.bund.de/cm/343/gesundheitliche-bewertung-von-nikotinbeuteln-nikotinpouches.pdf).

Fazit:

Angesichts der vorgenannten Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass „Nicotine Pouches“, die den zulässigen Grenzwert von Nikotin in Lebensmitteln (erhebliche Überschreitung des ARfD-Werts) überschreiten, nicht verkehrsfähig sind.

Es besteht Unsicherheit in Bezug auf die zukünftige rechtliche Bewertung. Die rechtliche Bewertung ist unter Umständen noch nicht abgeschlossen, da sich um eine relativ neue Thematik handelt.

Rechtspolitik:
Der Gesetzgeber hat es abgelehnt, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Er verweist darauf, dass eine solche Regelung nur EU-einheitlich erfolgen könne (Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Zulässigkeit des Verkaufs von tabakfreien Nikotinbeuteln („Nikotin-Pouches“) und Lutschtabakprodukten („Snus“) in Deutschland, S. 5, https://www.bundestag.de/resource/blob/934682/76303f347908f93e947d4d86ffd36a94/WD-5-002-23-pdf-data.pdf).

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